Friday, October 7, 2011

9/12 - die Zweite

Ich habe Vatterns Zeitungstrulla davon berichtet, wie ich Sohn von der Schule abgeholt habe. Das war mein grosses 9/11 Erlebnis gewesen.

Nachdem ich endlich an der Schule durchgekommen war am Telefon, haben die mir gesagt, die Schule waere "auf Lockdown", und keiner duerfte weg. Ach was. Das werden wir doch mal sehen. Ich habe Sohn gesagt, ich komme. Irgendwie komme ich dahin. Irgendwie. Warte. Ich komme.

Ein Taxi konnte man natuerlich nicht bekommen. Aber ich habe das Glueck, dass direkt nebenan von mir ein Fahrdienst ist. Der ist mir schon mehrmals zugunsten gekommen. Z. B. als ich letztes Jahr meine alte, todkranke Katze zum Einschlaefern zum Tierarzt bringen musste. (9. Oktober 2010). Und als ich an einem Sonntag Abend nicht mehr das Gleichgewicht halten konnte, und mein rechtes Auge total schief war (6. Maerz 2011). Und ich schnellstens ins Krankenhaus musste. Aber gut, das war alles ca. 10 Jahre spaeter. Jetzt reden wir vom 11. Sept. 2001.

Ich bin da also schnellstens hin zu dem Fahrdienst, und habe denen gesagt, ich muss schnellstens downtown. Die haben gesagt, das geht nicht. Denn es bewegt sich gerade alles UPTOWN, weg vom Ort des Terroristenanschlags. Und man wuerde da nicht durchkommen. Ich habe einem Fahrer gesagt, ich bezahle ihm 80 Dollar, wenn er es wenigstens versucht. (Normalerweise ist so eine Entfernung ca. 20 Dollar.) Ob ich ihm einen Scheck schreiben koennte. Ausnahmsweise. Denn normalerweise nehmen die nur Bargeld. Und der hat Geld gerochen und.... zugestimmt. Wir also ganz langsam - gegen den Strom - uns vom Norden Manhattans zum Sueden Manhattans bewegt. Der Fahrer hat die ganzen Leute, die am Strassenrand gewinkt haben, ignoriert. Geld spricht seine ganz eigene Sprache. Tja.

Ich habe ihm dauernd gesagt, wenn er nur ans Times Square kommt, nur ans Times Square (dort war es bekanntlicherweise ziemlich schwer, durchzukommen.) Die restlichen 40 oder 50 Blocks koennte ich schnell rennen, Sohn holen, und zusammen koennten wir dann wieder zurueck rennen ans Taxi. Wenn er nur am Times Squaere warten wuerde. Bitte? Bitte! 80 Dollar. Bitte.

Wir kamen ans Times Square. Wir waren mitten in Manhattan. Menschenmengen standen ueberall herum und haben verzweifelt gewinkt. Ob er dahin oder dorthin zufaellig fahren wuerde. Es war immer in die entgegensetzte Richtung. Uptown. Fahrer, wohl die 80 Dollar im Hinterkopf, hat immer abgewinkt. Nein. Leider nein. Polizisten hatten teilweise abgesperrt und uns umgeleitet. Ich immer "wenn wir nicht weitekommen, koennen Sie auch gerne hier halt machen. Aber warten. Bitte warten. Ich werde vom Times Square an die Canal Street rennen, und meinen Sohn von der Schule abholen. Wenn Sie nur warten." Er hat gesagt, er wuerde warten, wenn er nicht mehr durchkaeme. 80 Dollar. Hallo!

Wundersamerweise kam er dann durch. (80 Dollar?) Als wir die weissen Staubwolken vor uns sahen, wusste ich, dass wir es geschafft hatten. Wir waren entgegen allem Verkehr und entgegen jeder Logik im Sueden Manhattans. Irgendwie (80 Dollar?)

Der Fahrer machte vor der Schule halt. Direkt vor der Schule. (80 Dollar sind fuer einen afrikanischen Immigranten keine Peanuts. Fuer mich auch nicht, aber darauf kam es in dem Moment nicht an.) Ich rannte die Treppen hoch. Die Schule hat mich ohne Brimborium reingelassen, ohne meinen Ausweis zu ueberpruefen, was fuer die sehr ungewoehnich war. Ausnahmesituation halt. Es herrschte ein weisser Nebel. Durch die Fensterritzen hindurchgekommen.

Sohn wartete auf mich im Lobby der Schule. Ich fiel ihm heulend um den Hals. Dann habe ich gesagt "ich habe ein Taxi. Es wartet da unten." Andere Herumstehende konnten das irgendwie nicht fassen. Wie ich das geschafft habe? Ein Taxi unter diesen Umstaenden? Ja, wie denn? Mit Geld bestochen, wie denn sonst? Ach, die haben kein Geld? Ich auch nicht, aber in dem Moment konnte ich es irgendwie herbeizaubern. Weil es mir wichtig genug war. (Hinterher kam mir natuerlich der Gedanke, dass ich da auch jemanden haette mitnehmen koennen, aber in all dem Chaos hatte ich daran nicht gedacht. Die haetten ja auch den Mund aufmachen koennen. Wie soll ich denn von selber darauf kommen? Ich bin doch kein Wohltaetigkeitsverein, jessesgott, obwohl ich schon jemanden haette mitfahren lassen, wenn sie sich denn zu fragen getraut haetten und nicht nur mit offenem Mund gestaunt haetten.)

Sohn und ich auf Ruecksitz des Taxis. Ich "Also das war's jetzt. Wir ziehen aus dieser Stadt fort. Hier bleibe ich nicht mehr. Nein." (Sohn wirft mir heute vor, dass ich das nicht ernstgemeint haette. Aber wo soll ich denn gross hin?) Wir guckten aus dem Rueckfenster, und sahen kaum etwas. Weisse Wolken ueberall.

Nun denn. Die Fahr nach Hause ging sehr viel schneller, als die gegen den Strom.

Und am naechsten Morgen durfte ich das alles irgendeiner deutschen Zeitungstrulla erzaehlen. Ich hatte Vattern gesagt, was soll ich denn da gross berichten, ihr seht das ja auch alles im Fernsehen. Ja, aber er wollte doch einen Bericht aus erster Hand, von jemandem vor Ort. Verzweifelt. Es ging schliesslich um sein Ego. Der arme Teufel, der sich sonst fuer mich schaemt, war auf einmal auf mich angewiesen. Ach was.

Sohn hat mir erzaehlt (nein, er hatte das sogar alles im Detail seitenlang AUFGESCHRIEBEN, wir haben es immer noch), dass ein Flugzeug bedrohend tief ueber seinen Kopf flog bevor er in die Schule ging. Und ganz komisch laut klang. Und er dann einen lauten Knall gehoert haette. Und als er dann in der Schule war, haette man kundgegeben, dass gerade ein Flugzeug ins WTC geflogen waere. Und alle Schueler waeren rausgegangen auf so eine kleine Verkehrsinsel dort in der Naehe, und haetten Rauch und Flammen aus dem einen (dem ersten) Turm kommen sehen. Zu diesem Zeitpunkt dachte man noch, es waere ein Unfall gewesen. Sohn war mal wieder eine Stunde zu spaet in die Schule gekommen, sonst haette er das gar nicht ersterhand mitbekommen mit dem ersten Flugzeug kurz nach neun.

Was ich nicht ueberfallen am Telefon auf deutsch zustande gebracht habe, hier ist es jetzt also, ein bisschen verspaetet.

Der 27-Jaehrige Deutsche, der im gleichen Artikel vorkam, war wie gesagt noch sehr gewandt und selbstbewusst auf deutsch. Waehrend ich wie eine hysterische, beknackte Alte herueberkam. Aber das ist ja kein Wunder. Die Langzeiturlauber, die "mal ein paar Jahre im Big Aeppel arbeiten" sind ja nicht richtig gefaehrdet, werden niemals mit dem Big Aeppel Alltag konfrontiert in all seiner Gnadenlosigkeit. Fuer die ist der Langzeiturlaub im Big Aeppel ein einziges grosses ABENTEUER: Das Abenteuer des Big Aeppels, mit dem Sicherheitsnetz von daheim. Das Beste aus beiden Welten. So musss man's machen, und unterstuetzende Eltern muss man sich auch ausgesucht haben. Ich koennte kotzen. So viel kann man gar nicht fressen, wie ich kotzen koennte. Aber das alles ist ein anderes Thema. :/ Und wird hier in diesem Blog immer mal wieder.... hochkommen.:)

Nachtrag: Memories, memories... Ich hatte noch jahrelang Alptraeume von den Leuten, die aus den Fenstern sprangen/fielen. Das war fuer mich irgendwie das Schlimmste an der ganzen Sache. Und ist es immer noch. An dem entprechenden Morgen, bevor ich das TV anmachte, hatte ich gerade angefangen, ein Buch zu lesen, das ich jahrelang vorher schon mal gelesen hatte. Ein Roman von Susan Isaacs. Der Titel faellt mir gerade nicht ein. Am Anfang wurde berichtet, wie Leute in der "Great Depression" der 30er Jahre an der Wall Street sich aus den hohen Fenstern stuerzten. Hinterher dachte ich oft, wie komisch, dass sowas gerade im RL passiert war an der Wall Street bzw. ganz nahe dran. Und ich hatte keine Ahnung. Nicht bis 11:22 als ich den Fernseher einschaltete, und mich aergerte, dass ich die ersten 22 Minuten von "The Price is Right" schon versaeumt hatte. Ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich lesen oder TV gucken wollte. Hatte an dem Tag Blau gemacht, und die Auswahlen an gemuetlich-Machen waren viele. Die Sonne schien so schoen durch das Fenster. Es war ein toller Morgen. Das Buch habe ich uebrigens nie mehr zu Ende gelesen. Und es irgendwann weggeschmissen. Mir wurde immer schlecht, wenn ich es herumliegen sah.

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